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Jungen Wettenbergern besonders zugeneigt

Zum Tode von Joseph Nitti, des Vorsitzenden des »Train Fantôme«-Freundeskreises in Sorgues

Wettenberg (bf). Die Gesamtschule Gleiberger Land und die Deutsch-Französische Gesellschaft Wettenberg erinnern in Dankbarkeit an Joseph Nitti: Der Vorsitzende der Amicale des Déportés du Train Fantôme in Sorgues, der Wettenberger Partnerstadt in Frankreich seit 1972, und langjährige italienische Diplomat verstarb am 5. August in Rom nach langer Krankheit. Freunde aus Sorgues übermittelten die Nachricht ins Gleiberger Land.

Was soll in einer deutschen Regionalzeitung ein Nachruf auf einen Römer, der in vieler Herren Länder und auch in Südfrankreich tätig war? Nittis Zutun, seine Motivation als Präsident der Ehemaligen-Vereinigung der Deportierten im »Geisterzug«, war immer darauf ausgerichtet, dass das Miteinander zwischen genau diesen Orten und ihrer Bürgerschaft dazu geeignet ist, durch Aktivieren des Gedenkens und Erinnerns die gemeinsame Zukunft leichter zu meistern. Für die »Amicale« bedeutete seine Präsidentschaft eine klare Orientierung und Wertschätzung ihrer Schritte von jemandem, der »herumgekommen« war.

Unvergessen bei den Wettenbergern, die Nitti begegnen durften, dessen kleine, aber deutliche Geste zur Gestaltung die Europäisierung: Erstmals erklang bei der Gedenkzeremonie am 18. August 2004 – 60 Jahre nach dem Deportiertenzug-Geschehen in Wettenbergs Partnerstadt, das sich zu Beginn dieser Woche erneut jährte - die Europäische Hymne. Joseph Nitti hatte im Jahr zuvor, als erstmals überhaupt Deutsche zugegen waren beim Gedenktag, ausdrücklich eine Einladung an sie ausgesprochen, sie mögen doch zur Mitgliederversammlung der »Amicale« kommen.

Der sprachgewandte, in Toulouse geborene Sohn des italienischen Antifaschisten Francesco Fausto Nitti war in Europa und in der Welt zuhause. Nach 40 Jahren im diplomatischen Dienst seines Landes, arbeitete er nach seiner Pensionierung noch als Wahlbeobachter für die Europäische Union in Sri Lanka und Kambodscha. Nitti war ein »Diplomat der Tat«: Sein Wunsch nach Miteinander und Aufeinenderzugehen war in seinen Worten und Gesten immer spürbar, seine Hinwendung zum Gesprächspartner machte jedes Gespräch mit ihm zu einer Auszeichnung.


»Train Fantôme« - Gedenken am Bahnhofsvorplatz in Sorgues/Südfrankreich: Joseph Nitti und Monika Graulich legen am Deportierten-Denkmal Blumen nieder, links hinten die Bürgermeister Gerhard Schmidt und Dr. Alain Milon.

Joseph Nitti war den Mitgliedern der Deutsch-Französischen Gesellschaft Wettenberg sowie den Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule ans Herz gewachsen – und sie ihm. 2002 hatte das erste Unterrichtsprojekt zum Deportiertenzug gezielt nach Sorgues geführt, um in der Begegnung mit Zeitzeugen mehr zum tragischen Geschehen aus dem Sommer 1944 zu erfahren. Es war Nitti anzumerken, dass es ihn bewegte, dieser jungen Wettenberg-Generation in Frankreich zu begegnen, am Thema orientiert zu beobachten, wie sie neugierig waren oder wurden, wie sie zuhörten. Zuletzt 2005 in Sorgues, aus Anlass der Begegnung zum 50. Jahrestag des Kriegsendes. Joseph Nitti nahm sich Zeit, die aus Wettenberg mitgebrachten Objekte – Ergebnisse aus Schulunterrichten unterschiedlicher Fächer – anzuschauen, den Erläuterungen der Jugendlichen zu lauschen.

Nittis Wurzeln zu Sorgues gehen auf seinen Vater Francesco Fausto Nitti zurück. Dieser war in der faschistischen Zeit Italiens zunächst abenteuerlich nach Frankreich gelangt, hatte dann am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen, war – nach Flucht und Internierung – der Résistance beigetreten. Verurteilt und inhaftiert, war er im Sommer 1944 einer von 700 Menschen, die zur Deportation nach Deutschland bestimmt waren. Er hatte dem Zug entfliehen können und diese Flucht in dem Buch »Chevaux 8 Hommes 70« beschrieben. »Acht Pferde – 70 Menschen« – die Zahlen waren im Jargon der Deutschen zum Veranschaulichen des Fassungsvermögens eines Viehwaggons gedacht. Joseph Nitti hatte eigenes Erleben – etwa den Fall der Mauer während seiner Botschafter-Jahre in Ungarn – und die erlittene Last von Vater und Onkel durch Faschismus, Haft und Deportation zu schultern. Die Anlässe in Sorgues zu Begegnung und Gedenken wurden durch seine Gegenwart zu etwas besonderem, im vergangenen Jahr erwartete man ihn ab und an vergeblich. Nittis Überzeugung: »Das Gedenken an die Opfer des Nazismus ist eine gute Gelegenheit, um in einem weiter vereinten Europa die Gefühle von Freundschaft und Solidarität zu festigen, die bereits im Unglück Menschen aus verschiedenen Nationalitäten unseres Kontinents vereinten.«

Nitti schrieb für die Wettenberger das Vorwort zur Dokumentation »Sorgues, 18. August 1944« und war Schirmherr der Ausstellung »Namen statt Nummern« aus Dachau, die im Juni 2008 in Gießen im Gemeindesaal der Pankratiusgemeinde zu sehen war. Alle, die die Chance hatten, diesem Menschen zu begegnen, nahmen etwas mit, konnten etwas mitnehmen.

Autorin Monika Graulich ist Stadträtin in Gießen und seit 2002 im Wettenberger Partnerschaftsverein ehrenamtlich damit betraut, im Dialog mit Sorgues und durch eigene Recherche »Erinnerungsarbeit« der Schule und des Vereins zu fördern.