Aus der Giessener Allgemeinen Zeitung vom 29.5.2002

Geisterzug in den Tod und die Kultur des Erinnerns

Zehntklässler der Wettenbergschule trafen in ihrer Partnerstadt Sorgues/Frankreich Dachau- und Ravensbrück-Überlebende

Gedenkfeier am erst 1991 errichteten Mahnmal vor dem Bahnhof in Sorgues, das an die etwa 700 Deportierten des o"Train Fantôme" erinnert, von denen - während einer couragierten Hilfsaktion der Bevölkerung am 18. August 1944 wenigstens 30 fliehen konnten. Einzelnen gelang, während der Fahrt durch die Befreiungsschlacht, an anderen Orten ein Entkommen. Und nur wenige überlebten anschließend die Lager in Dachau sowie in Ravensbrück und Sachsenhausen. Darunter der mittlerweile 82-jährige Marc Brafmann aus Lyon, ein gebürtiger Pole jüdischer Kultur, die 77-jährige Conchita Grange-Ramos aus Toulouse, deren Familie in Spanien wurzelt, und der ebenfalls 77-jährige Raymond Champel aus einem Ort bei Lyon, der 1944 kurz vor dem "Geisterzug"-Halt in Roquemaure hatte entkommen können. Das Foto zeigt die Holocaust-Überlebenden im Kreis der jungen Wettenberger, die in der vergangenen Woche im Rahmen eines Schulunterrichtsprojektes zum Zeitzeugengespräch in die Provence gefahren waren. (Fotos: no)

Wettenberg (no). "Jetzt hat dieser Teil der Geschichte, haben die Opfer der nationalsozialistischen Greuel für mich ein Gesicht, eine Stimme, eine Geste.

Die 77-jährige Conchita Grange-Ramos war mit ihrem Mann 500 Kilometer aus Toulouse angereist, um mit den Wettenberger Jugendlichen die Geschichte des "Train Fantôme" zu erörtern. 1944 hatte sie, gerade 19 Jahre alte Tochter eines. Resistance-Aktivisten, diesen "Geisterzug in den Tod" besteigen müssen. 1945 kehrte sie - nach Dachau, Ravensbrück und Sachsenhausen - in ihre Heimat zurück; gerade noch 35 Kilogramm schwer. Zur Schüler-Wanderung auf den Spuren der Deportierten, über 18 Kilometer von Roquemaure nach Sorgues, stieß sie gegen Mittag hinzu - mit einer Steige voll frisch gepflückter provencalischer Kirschen, die sie den Jugendlichen zur Erfrischung reichte.
Ich frage mich nur, warum ich mich nicht schon früher damit beschäftigt habe", meinte die 16-jährige Lisa Abel, Zehntklässlerin der Wettenbergschule, zu Wochenbeginn nach der Rückkehr vom Treffen mit Zeitzeugen im Rahmen des fächerübergreifenden Projektes "Le Train Fantôme", das sie und 16 ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler vom vergangenen Mittwoch an nach Sorgues geführt hatte, in die französische Partnerstadt ihrer Heimatgemeinde. Patricia Engels unterstrich ihre Empfindung, so unerwartet deutlich zwischen dem (theoretischen) Unterricht und dem unmittelbaren, durchaus emotionsbetonten Gespräch mit Betroffenen unterscheiden zu können. Eine ganz andere Qualität sei dies gewesen, die Geschichte für sie greifbar gemacht habe. Gerrit Jäger gestand, wie andere aus der Klasse auch, sich nicht schuldig zu fühlen für das, was die Generation der Großväter und Urgroßväter während des so genannten Dritten Reichs an Menschenverachtung praktiziert habe, dass er sich aber dafür schäme. Geradejetzt, wo man einzelnen überlebenden Überlebenden unter die Augen getreten sei und mit ihnen gesprochen habe. Und Philipp Krämer wird wohl nie vergessen, was ihm der 82-jährige Marc Brafmann aus Lyon, ein gebürtiger Pole jüdischer Kultur, mit ruhiger Stimme vermittelte: "Ich werde euch immer im Herzen tragen!"

Es waren bewegende Momente, die von Mittwoch bis Sonntag in und bei Sorgues beobachtet werden konnten - am Ende eines langen Weges, der, wenn man so will, am 18. August 1944 seinen Anfang nahm.
Jürg Altwegg - hier im Gespräch mit dem früheren Wettenberger Bürgermeister und späteren Gießener Kreisbeigeordneten Günter Feußner - kam in der vergangenen Woche aus Genf nach Sorgues zum deutsch-französischen Geschichts- und Sprachunterrichtsprojekt der Wettenbergschule. Der 51-jährige Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und mehrfach ausgezeichnete Journalist hatte - dazu animiert von Michael Wolffsohn - das 2001 bei Rowohlt erschienene Buch "Geisterzug in den Tod" verfasst, das in etlichen Teilen auf die "Train-Fantôme"-Recherche Der Sorgueser Heimatkundler Robert Silve und Charles Teissier aufbaut. Altwegg zu den Jugendlichen: "Was ihr gemacht habt, wird in die Geschichte der Amicale des Deportes und der Partnerschaft eingehen." Der stete Grenzgänger zwischen deutscher und französischer Welt reiste nach der Veranstaltung mit den Wettenbergem weiter nach Cavalaire-sur-Mer - zu seinem Freund Klaus Harpprecht. Der 75-Jährige zählt ebenfalls zu den "Edelfedern", war von 1972 bis 1974 Chef der Schreibstube und Berater bei Bundeskanzler Willy Brandt, schrieb unter anderem "Mein Frankreich. Eine schwierige Liebe". Im Gepäck hatte Altwegg übrigens einen Eichen-Setzling aus dem Krofdorfer Forst, der bei Harpprechts in die Erde kam.
Die meisten der in französischen Lagern internierten Juden waren da schon ins östliche Europa deportiert und dort ermordet worden. Angesichts der Alliierten-Invasion beeilte sich die Vichy-Regierung, alle noch verbliebenen Lagerinsassen zu deportieren. Das Lager in Vemet d'Ariège wurde am 30. Juni aufgelöst; 600 Menschen pferchte man in die Viehwaggons eines gut ein Kilometer langen Zuges. Die Odyssee des "Train Fantôme" - so benannt, weil der Zug, wie ein Gespenst, zunächst durch das Languedoc irrte und an unterschiedlichen Orten gesehen wurde - nahm ihren Anfang. In Toulouse kamen 300 politische Gefangene des Gestapo-Gefängnisses Saint Michel hinzu. Die Irrfahrt der Menschen mit Heimat in Frankreich, Spanien, Italien, Polen, Griechenland und etlichen anderen europäischen Ländern begann - mitten in der Befreiungsschlacht.

Als Paris und auch weite Teile des Südens schon befreit waren, am 28. August 1944, traf der Zug im KZ Dachau ein. Die etwa 60 Frauen wurden nach Ravensbrück weitergeleitet, einzelne - über Außenstellen - nach Sachsenhausen. Eines der dramatischsten Kapitel dieser unsäglichen Geschichte spielte sich in Sorgues ab, einer von 1942 bis 1944 von Deutschen besetzten Stadt bei Avignon - die seit 1972 mit Krofdorf-Gleiberg respektive seit 1980 mit Wettenberg verschwistert ist.

In Roquemaure am westlichen Rhône-Ufer hatte der Widerstand die Schienen demoliert: Der "Geisterzug" kam dort am 18. August 1944 nicht weiter. Die an diesem Tag noch rund 700 Deportierten mussten - nach über 40 Tagen Siechtums in Waggons und in der Synagoge von Bordeaux ausgemergelt - bei brütender Hitze zu Fuß über die Brücke und, via Chateauneuf-du-Pape, ins 18 Kilometer entfernte Sorgues laufen, mussten sich schleppen und das Gepäck ihrer Peiniger tragen, mussten am Ende, am Bahnhof in Sorgues, einen neuen Zug besteigen. Wenigstens etwa 30 Personen konnten entkommen, als sich am Spätnachmittag des genannten Tages am Bahnhofsvorplatz das Beladen verzögerte, als die Bevölkerung die traurigen Gestalten mit Wasser und Obst versorgte, als man auf eine neue Lokomotive aus Avignon wartete.

Drei, vier Tage später wurde die besetzte Stadt befreit. Nur drei, vier Tage später. Aber niemand hatte es vermocht, viele hundert Deportierte vor dem Tod zu retten. Nicht Résistance und Maquis, nicht die Alliierten.

Und erst 45 (!) Jahre später begann ein Mann in Sorgues damit, die Geschichte des Zuges zu recherchieren - Robert Silve, beim Marsch der Gefangenen durch seine Stadt gerade ein Jugendlicher, ging mit Eintritt ins Rentenalter an die Arbeit.

Die Zehntklässler der Wettenbergschule pflanzten auf der Place du Wettenberg vor dem Bahnhof von Sorgues und neben der Rue de 700 Déporté du Train Fantôme einen Baum der Freundschaft. Aus ihren Reihen heraus war dieser Vorschlag gekommen, um - im Wortsinn - ein Zeichen zu setzen wider das Vergessen. Zum Dank überreichte Dr. Alain Milon, Bürgermeister von Sorgues, eine Platane, die in Kürze auf dem Schulgelände einen neuen Platz findet.
Da war Sorgues schon knapp zwei Jahrzehnte mit Krofdorf bzw. Wettenberg verschwistert. Aber über dieses Kapitel der Geschichte hatte nie jemand gesprochen; übrigens auch nicht über die Besatzung.Silve schrieb mit Freunden ein Buch, sammelte Geld für ein Denkmal, brachte die letzten drei Dutzend Überlebenden und zudem etliche Angehörige (wieder) zusammen.

In Wettenberg nahm die Deutsch-Französische Gesellschaft 1998 Kenntnis vom "Train Fantôme", kaufte einen Klassensatz Bücher, formulierte ein Unterrichtsprojekt. Es folgte 2001 das Erscheinen des Buches "Geisterzug in den Tod" des in Genf lebenden Journalisten Jürg Altwegg. Der Durchbruch für das Vorhaben, Jugendliche mit diesem Teil der Geschichte an Ort und Stelle vertraut zu machen. Der Partnerschaftsverein sorgte gemeinsam mit dem Comité de Jumelage für die Organisation, die Schule räumte Platz im Stundenplan ein und erledigte "bettelnd" die Finanzierung.

Und nun? Am Donnerstag - zunächst bei strömendem Gewitterregen - marschierten die Wettenbergschüler, verabschiedet vom örtlichen Bürgermeister, von Roquemaure 18 Kilometer weit nach Sorgues. Dort Gedenkfeier am Mahnmal, Niederlegen von Blumengestecken, Pflanzen eines Baumes der Freundschaft. Tags darauf das Zeitzeugengespräch mit Marc Brafmann, Conchita Grangé-Ramos, Raymond Champel und

Zeitzeugengespräch am vergangenen Freitag im Festsaal der Stadt Sorgues: Marc Brafmann und der Lokalhistoriker Robert Silve im Dialog mit Zehntklässlern der Wettenbergschule
Robert Silve. "Fragt, Kinder! Wir sind Großeltern, wir können eure Fragen ertragen", ermunterte Ramos. Brafmann - lungenkrank und vom Leben gezeichnet - skizzierte mit Worten eine Hommage an die "Vergangenheitsbewältigung" der Deutschen: Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto habe ihn versöhnt. "Sorgues vereint uns! Uns Überlebende untereinander - und jetzt auch uns mit euch Wettenbergern!" Hass gegen Deutsche? Champel war ob der Schüler-Frage gerührt, konnte nur kurz antworten: "Mitnichten!" Die Wettenberger Schüler - unterrichtet von Gertrud Ritscherle (Deutsch, Klassenlehrerin), Mirka Pesek (Franz.) und Gerhard Kohler (Geschichte/Politik) - gaben ein sehr gutes Bild ab. Sie waren in Sorgues alles andere als ein Beispiel für Bildungsnotstand und PISA-Desaster Marc Brafmann: "Ich liebe keine Zeremonien -wohl aber das, was ihr gemacht habt!" Ramos: "Ich bewundere die Arbeit der Schüler." Altwegg: "Silve hat die Geschichte vor dem Vergessen gerettet. Ihr habt sie fortgeschrieben im Sinne einer guten 'Kultur des Erinnerns'!" Die Wettenbergschüler werden ihr Projekt am 25. Juni von 18 Uhr an in der Schule Gästen und der interessierten Öffentlichkeit präsentieren.

Schüler-Beiträge zum Geisterzug" -Projekt: Ein Baum der Gedanken und ein Frankreich-Modell

Auch In Roquemaure im südfranzösischen Département Gard, ebenfalls markante Station des "Train Fantôme", fand mit den Wettenbergschülern eine von örtlichen Akteuren - darunter Bürgermeister Vernet - organisierte Gedenkfeier statt. .